Liebe Leser,
Ist es nicht schön, dass Schönheit heute ein so diverses Konzept geworden ist?
Es gibt immer wieder Studien darüber, was Menschen als schön empfinden. Von Durchschnitt ist da oft die Rede. Es wurden Befragungen durchgeführt, bei denen Probanden Bilder von Gesichtern vorgelegt wurden, deren Attraktivität sie beurteilen sollten. Die Bilder bestanden aber nicht aus Fotos von einzelnen Personen, sondern wurden erstellt aus den Bildern mehrerer Menschen, so dass deren Züge immer „verwaschener“ wurden. Je mehr Gesichter übereinander gelegt wurden, je mehr die Gesichter also sich dem Durchschnitt näherten, desto schöner wurden sie von den Probanden eingestuft.
Ich behaupte aber: Es gibt zwei verschiedene Arten, den Begriff „Schönheit“ zu benutzen. Der eine bedeutet, dass man jemanden objektiv als attraktiv empfindet, es sind jedoch wenig Emotionen im Spiel. In solchen Fällen ist die Schönheit vielleicht etwas glatt und sogar langweilig. Der andere bedeutet genau das Gegenteil, und diese Schönheit kommt oft – so abgedroschen das auch klingt – von innen.
Die Zeit der makellosen 90er-Jahre-Supermodels ist vorbei, Models und Hollywoodstars haben wieder Ecken und Kanten. Und immer öfter werden Leinwand, Laufsteg und Medien von Menschen erobert, die das „Gewisse Etwas“ haben, abstelle von zu 100 % ebenmäßigen Gesichtszügen.
So befasst sich beispielsweise die Fotografin Michelle Marshall in einem Projekt ausschließlich mit rothaarigen Menschen.
Viele Menschen mit roten Haaren, die mit Sommersprossen aufwachsen, versuchen jahrelang, sie zu überschminken, und werden oft sogar in der Schule gehänselt. Mit liebevollem Blick bringt die Fotografin die Einzigartigkeit dieser Menschen zum Vorschein und lässt sie ganz ungeschminkt leuchten. Das Projekt war ein Riesenerfolg und verbreitete sich rasant und mit sehr positiver Resonanz in den Social Media.
Auch ein Profimodel ist gerade in aller Munde: Chantelle Brown-Young.
Die bezaubernde junge Frau hat (wir sagen bewusst nicht „leidet unter“) Vitiligo. Im Deutschen müsste man es wohl eine Krankheit nennen, das englische „condition“ – Zustand – trifft es eher. Die unterschiedliche Pigmentierung ihrer Haut gibt ihr eine ganz besondere Schönheit, und ihr Erfolg zeigt, dass viele Menschen diese Meinung teilen!
Viele wollen heutzutage Gesichter sehen, die etwas zu erzählen haben. Das ist sicher auch einer der Gründe, warum ältere Models gefragt sind wie nie. Carmen del’Orefice ist keine 30 mehr, und sie tut auch nicht so.
Zugegebenermaßen besteht sie vielleicht nicht mehr nur aus „Originalbauteilen“. Trotzdem schämt sie sich ihrer Falten nicht und präsentiert auf ihre ganz eigene Weise sogar High Fashion auf dem Laufsteg.
Ebenfalls auf dem Catwalk gut gebucht ist Madeline Stuart.
Die junge Frau mit Down Syndrom hat ein unvergleichliches Lächeln – und einen vollen Terminkalender!
Vorbei sind auch die Zeiten, als füllige Menschen sich bitte schön unter zahlreichen Schichten weiter Gewänder verstecken sollten. Plus Size Models sind gefragt wie nie. Kein Model, aber definitiv eine Mode-Ikone (und Designerin) ist die Sängerin Beth Ditto.
Auf der Bühne suchte sie oft die Provokation, doch davon ist nichts zu erkennen, wenn man sie heute sieht: Es wird nichts versteckt, nichts „kaschiert“ – sie ist einfach schön, so wie sie nun einmal ist.
Bewusst mit dem Konzept von Schönheit spielt der Travestiekünstler Tom Neuwirth. Wer, werden Sie fragen, ist Tom Neuwirth?
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2014 trat er als Conchita Wurst für Österreich beim Eurovision Song Contest an, in glamouröser Robe und perfekt gestylt – mit Bart.
Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen, und gerade das gibt Hoffnung. Hoffnung, dass die Menschen immer mehr einander als Gesamtkonzept wahrnehmen, dass andere nicht wegen kleiner „Andersartigkeiten“ ausgeschlossen oder verurteilt werden, sondern so akzeptiert und wertgeschätzt, wie sie sind. Dass gesellschaftliche Normen vielleicht etwas aufgeweicht werden zugunsten der individuellen Entfaltung. Niemand sollte sich verstecken müssen und wegen seines Äußeren leiden. Wir leben nicht in einer perfekten Welt und sie wird nie perfekt sein – aber diese Akzeptanz gibt ein bisschen Glauben an die Menschheit zurück!
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